Trainingsprogramm für innere Balance

Juli 15, 2025 in Essay

von Eva Scheller

Letzte Woche war einer der heißesten Tage dieses Sommers. Gleichzeitig war es einer der schwarzen Tage in der jüngeren norddeutschen Bahngeschichte. Satt dreieinhalb Stunden von Haustür zu Haustür brauchte ich die doppelte Zeit.

Eine Fliegerbombenentschärfung in Osnabrück war ebenso beteiligt wie eine Oberleitungsstörung vor dem Hamburger Hauptbahnhof, ein wegen Personalmangels nicht besetztes Stellwerk bei Wolfsburg und weitläufige Böschungsbrände an Bahnanlagen. Es gab keine mir bekannte Störung, die nicht auftrat.

Später schrieb ich eine ganz Seite mit den Ereignissen voll, einfach deshalb, weil ich nach meiner Erinnerung noch nie eine so perfekte Illustrierung von Murphys Law erlebt hatte: „If anything can go wrong, it will.“

Wahrscheinlich ist in den Planetenkonstellationen gerade einiges los, allerdings, ein Merkur im Retrograd ist es nicht, das habe ich nachgesehen, denn wieder zu Hause, begann eine Woche mit technischen Hürden beim Bau meiner neuen Webseite. Mehr als zwanzig Stunden verbrachte im Kontakt mit drei unterschiedlichen Support Stellen und mit eigenen Lösungsversuchen, nichts bewegte sich, der Elan, mit dem ich ans Werk gegangen war, kam zum Stillstand, der Freeze Modus der Webseite bildete sich zunehmend in meinem Inneren ab.

Während dieser Zeit überraschte ich mich immer wieder, in gleicher Weise, wie während der verlängerten Bahnreise, dadurch, dass ich vollkommen gelassen blieb.

Ja, es war anstrengend. Ja, meine Pläne wurden ein ums andere Mal durchkreuzt. Ja, ich muss Termine verschieben, weil ich mit meinem Zeitplan hoffnungslos hinterher bin. Ja, sogar meine Jahresplanung hat eine andere Richtung genommen.

Und trotzdem muss ich mich nicht aufregen. Trotzdem muss ich nicht rumschimpfen, nicht mal zur kurzfristigen Entlastung. Ich gehe nicht mal der Sorge nach, ob die Webseite vielleicht unreparierbar kaputt ist. Ja, könnte sein, allerdings reicht es, eine Nervenkrise zu bekommen, wenn die Diagnose vorliegt.

Wieviel Unglück ließe sich einsparen, wenn wir die schöne englische Redewendung beherzigten: „We’ll cross the brigde when we come to it.“

Wir werden die Brücke überqueren, wenn wir sie erreicht haben, bedeutet, sich nicht über Probleme den Kopf zu zerbrechen, die zwar in der Zukunft eintreten könnten, sich allerdings noch nicht eingestellt haben.

Natürlich ist es unter Umständen gut, Eventualitäten nicht ganz aus dem Blick zu verlieren. Natürlich habe ich kurz überlegt, dass ich noch eine Nacht bei meiner Berliner Freundin verbringen könnte, wenn das mit der Bahnfahrt nach Hause nicht mehr hinhaut. Natürlich ich habe kurz überlegt, was es bedeutet, wenn ich mit der Webseite wieder ganz von vorne anfangen muss. Alles mögliche Szenarien. Alles sehr unpassend und zeitintensiv, aber nicht wirklich schlimm.

Wirklich schlimm sind ganz andere Sachen.

Wirklich schlimm ist in meinem Kosmos auch, sein eigenes Nervensystem in Stress- und Angstspiralen hineinzuschrauben und an Ereignissen zu leiden, die unabwendbar sind oder deren Eintritt möglich, jedoch ungewiss ist.

Normalerweise muss ich aktiv für meine Gelassenheit sorgen, indem ich z.B. bewusst atme, mich aus Gedankenspiralen mit Mantren rette, eine Gehmeditation während des Wartens einlege (es kann auch eine Stehmeditation sein), Mitgefühl für andere Betroffene und für mich selbst übe.

Ja, auch das ist immer wieder anstrengend, vor allem, wenn es nicht so gut gelingt. Doch es ist eine andere Anstrengung als die durch Angst, Stress, Wut, Frustration etc. verursachte.

Es ist eine lohnenswerte Anstrengung. Die ständige Übung bleibt haften. Der Körper lernt mit der Zeit, nicht mehr in automatische Überlebensreaktionen (kämpfen, flüchten, resignieren) zu gehen. Der Handlungsspielraum wächst.

(Natürlich bleibt auch die Angst-Stress-Wut-etc.-Übung haften. Je mehr wir dem Automatismus nachgeben, desto stärker werden die entsprechenden Muster. Der Handlungsspielraum schrumpft).

Ich weiß nicht, warum ich bei diesen Belastungen über viele Tage hinweg so gelassen bleiben konnte, ohne das geringste dafür zu tun. Ich habe lauter Gelassenheitsgeschenke bekommen, die mindestens ein Zimmer in meinem kleinen Haus füllen.

Im Grunde stimmt es nicht, dass ich nichts dafür getan habe, solche Geschenke einzukassieren.

Ich habe unglaublich viel dafür getan. Seit über einem viertel Jahrhundert befasse ich mich mit dem, was die eine Tradition Geistestraining nennt und die andere Meditation. Seit mindestens fünfzehn Jahren möchte ich alle Türen einrennen und rufen: Leute, macht das! Kümmert euch um eure inneren Zustände! Übt, die Gedanken, vorbeiziehen zu lassen wie die Wolken am Himmel! Lernt, freundlich zu bleiben, no matter what, vor allem euch selbst gegenüber! 

Meine Lieblingsyogalehrerin hat letztens eine Stunde „Auf der Spur der Freude“ gegeben und zu meiner großen Freude aus meinem Buch zitiert:

„Wie würde die Welt ausschauen, hätten wir ein Konzept für Freude als inneren Haltung bei allem, was wir unternehmen und was uns widerfährt?

Denn das ist am Ende die entscheidende Frage: In welcher Weise habe ich mein Leen gefüllt mit Heiterkeit und Weite und einem freudigen Blick, und andere damit beschenkt oder angesteckt.“

Freude und Stille sind die größten Game-Changer meines Lebens. Freude und Stille sind Bestandteil meines Trainingsprogramms. Beides ist immer da, beides lässt sich kultivieren, vollkommen unabhängig von den äußeren Umständen.

Tatsächlich bin ich dankbar für die schwierige Zeit, sonst hätte ich ja gar nicht gemerkt, wie angenehm der geschenkte Zustand der Gelassenheit ist.

Keine Ahnung, in welcher Verfassung ich der nächsten schwierigen Zeit begegnen werde. Fast bin ich neugierig darauf.

Ich bin Dr. Eva Scheller, Founder #InnerEducationAcademy, Traumatherapeutin, Mentorin in Lern- und Veränderungsprozess, Autorin, Juristin, Aktivistin.

Alten Kontext dekonstruieren.
Inneres Wissen fördern.
Veränderungen wagen.
Neues finden.

Der Essay erschien erstmals in den NeuraumpalastNews 6.2025 unter dem Titel „Wenn alles zusammenbricht“.

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