Das Jahr hatte ich mir anders vorgestellt. Ich bin in einem mehr oder weniger mühsamen Hürdenlauf unterwegs…. Und mit vielem so viel langsamer, als ich geplant hatte. Relativ häufig frage ich mich in letzter Zeit, ob ich nicht aufhöre mit dem, was ich tue.
Allerdings, jetzt, da ich das hinschreibe, frage ich mich, ob ich wirklich ernsthaft versucht habe, diese Frage zu beantworten. Nicht nur darüber hinweghuschen. Sondern tief nachgraben: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr tue, was ich mir einbilde, tun zu wollen?
Den Essay, den ich dir heute schicke, habe ich bereits vor vielen Wochen geschrieben. Gut, dass er da ist. Den Text brauche ich nicht mehr zu hinterfragen. ……..:
Zum letzten Geburtstag habe ich mir Wortschatzkarten geschenkt. Eine davon liegt seitdem auf meinem Schreibtisch, mal über und mal unter den Stapeln, die abwechselnd wachsen und schrumpfen.
Gerade habe ich die Karte wieder entdeckt. Der japanische Begriff, lautschriftlich „nantoka naru sa“ notiert, bedeutet:
„Überzeugung, keine Angst haben zu müssen, da alles zu einem guten Ende führen wird“.
„Nantoka naru sa“ erinnert mich an den Satz, der mich seit Jahren in Stresssituationen begleitet und stets mehr oder weniger prompt zur Beruhigung meines autonomen Nervensystems führt.
„Alles geht immer gut aus für mich.“
So ein Satz, man könnte ihn auch Mantra nennen, hat zwei Funktionen:
Zum einen unterbricht er die Denkschleifen im Kopf, die im Detail ausmalen, was alles passieren könnte. Also, wenn der Kopf durchdreht und ständig wiederholt:
„Ich werde den Zug verpassen und den Termin nicht wahrnehmen können und meinen Job verlieren, weil ich es nicht hingekriegt habe und dann werde ich keinen neuen Job mehr finden und mein Leben ist ruiniert.“,
einfach in jede Lücke zum Beispiel den Satz stellen:
„Alles geht immer gut aus für mich.“
Das ist am Anfang ein Kampf und braucht sehr viel Willenskraft und Konzentration, denn das Drama haben wir meistens wesentlich besser geübt als das Nicht-Drama.
Tatsächlich sind viele Menschen geradezu süchtig nach schlechten Nachrichten und Geschichten. Wenn wir das ändern wollen, weil es im Alltag immer wieder anstrengend ist, wie unsere Gedanken uns mit ihren Angstszenarien terrorisieren: der erste Schritt, aus der Negativspirale herauszukommen, besteht darin, die Gedanken zu unterbrechen, und zwar so oft wie möglich.
Zum anderen, wenn der Satz für uns eine Wahrheit enthält bzw. sich „stimmig“ anfühlt, vermittelt er ein gutes Körpergefühl.
Wenn wir mit so einem Satz kein positives Körpergefühl verbinden, kann er immer noch den Zweck erfüllen, Denkschleifen zu unterbrechen. Allerdings bringt es uns auf Gefühlsebene nicht weiter, einen Satz zu verwenden, der nicht in Einklang mit unserer inneren Überzeugung steht. Denn das, was nachhaltig beruhigend auf das autonome Nervensystem wirkt, ist das gute Gefühl.
Vielleicht ist es ein Gefühl der Zuversicht, der Freude, der Gelassenheit, o.ä., das sich einstellt, (es ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, wie ein stimmiger Satz, ein passendes Mantra, empfunden wird).
„Alles geht immer gut aus für mich“ ist mir vor Jahren in einem Vortrag im Internet quasi vor die Füße gefallen, an den genauen Zusammenhang erinnere ich mich nicht mehr. Ich hob den Satz auf, weil mir sofort klar war, dass er mir gute Dienste leisten würde. Er stimmte für mich. Seine Bedeutung habe ich nicht weiter hinterfragt. Ich habe mich nicht darum gekümmert, ob er wirklich „wahr“ ist.
Letztens sagte mir eine Person, mit der ich arbeite, als wir für sie ein Notfallpaket in Stresssituationen zusammenstellten und ich meinen erprobten Satz anbot:
„Aber das stimmt doch gar nicht. Es geht doch nicht immer gut aus.“
Mein Mantra war bei ihr durchgefallen. Nach der Stunde fing ich zum ersten Mal an, über die Frage nachzudenken, ob mein Satz „wahr ist“. Bzw. ob es Situationen gibt, in denen er nicht wahr ist, also nicht stimmt.
Um auf das Zugbeispiel zurückzukommen: Wenn ich den Zug verpasse, ist es nicht gut für mich ausgegangen. Das, was ich wollte, konnte ich nicht umsetzen. Falls ich also in Folge des Zugverpassens nicht den Mann meines Lebens im Bahnhofscafé kennenlerne oder eine super Bekanntschaft mache, die mein Netzwerk bereichert, bleibt es bei einem negativen Ausgang. Ich komme zwei Stunden zu spät zu Hause an. Oder verliere den Job, weil ich das Meeting nicht hingekriegt habe.
Aber: was meint der Satz überhaupt? Meint er, meine persönlichen Wünsche sollen erfüllt werden und dann ist es gut? Ist so ein Satz faktisch validierbar? Ist er dann nicht mehr richtig, wenn ich nicht die Box ticken kann: Ja, hat geholfen, weil das rauskam, was ich wollte; sondern die Box ticken muss: Nein, war ein Schuss in den Ofen, weil ich meinen Willen nicht durchsetzen konnte?
Worauf bezieht sich das „gute Ausgehen“? Auf meine mitunter sehr kleingeistigen Vorstellungen? Auf meine Egozentriertheit? Meint der Satz, ich bin der Mittelpunkt der Welt und bestimme, was „gut“ ist?
Vielleicht war das Zugverpassen gut für ein Dutzend Menschen, die die Person ihres Lebens kennenlernten oder eine super Bekanntschaft machten? Ist der Zug möglicherweise weggefahren, damit all diese Leuten von nun an glücklicher sind? Hat deren plötzlich bereichertes Beziehungsleben etwas mit mir zu tun?
In meinem Leben gehen regelmäßig Dinge schief. Nicht umsonst lautete der Titel der letzten NeuraumpalastNews „Wenn alles zusammenbricht“.
Ja, ich könnte sogar sagen, dass gar nichts gut für mich ausgeht. Ganz egal, welche Erfolge ich verzeichne und wie pünktlich die Züge sind, in denen ich unterwegs bin, am Ende muss ich sterben. Und wenn ich mir den Zustand der Umwelt anschaue, den Mangel an politischen Visionen, den fehlenden politischen Willen zu nachhaltigen und heilsamen Veränderungen, dann good bye Mantra, du stimmst wirklich nicht. Nix geht für niemanden gut aus.
Wenn ich aber darauf blicke, was der Satz für mich tut, in welcher Weise er beruhigend wirkt, wie er mir hilft, in schwierigen Situationen nicht durchzudrehen, wäre das immerhin ein guter Ausgang für mein autonomes Nervensystem. Dann wäre zwar der Zug weg und ich hätte keine neuen Menschen in meinem Leben, könnte allerdings gelassen und voller Vorfreude darauf, dass ich demnächst wieder zu Hause sein werde, am Bahnhof warten.
Vielleicht würde ich tatsächlich meinen Job verlieren, weil ich es nicht hinbekommen habe und das Meeting platzte – aber woher weiß ich, dass der Verlust des Jobs nicht das Beste ist, was mir zu diesem Zeitpunkt im Leben passieren konnte? Vielleicht begreife ich erst viele Jahre später, wie entscheidend sich die unfreiwillige Weichenstellung auf meine Entwicklung ausgewirkt hat?
Nantoka naru sa, der japanische Begriff, den ich immer wieder neu auf meinem Schreibtisch entdecke, erweitert meinen Satz und führt als zusätzlichen Aspekt den Mangel an Angst ein.
Ich bin überzeugt, dass alles zu einem guten Ende führen wird und deshalb fürchte ich mich nicht. Bzw., vielleicht fürchte ich mich doch, lasse aber die Furcht nicht die Oberhand gewinnen. Ich stelle mich mit dieser Haltung in einen Rahmen, der viel weiter und größer ist als der enge Bereich, den ich überschauen kann.
Schach ist deshalb ein so schwieriges Spiel, weil es erfordert, viele Züge im Voraus zu durchdenken. Die besten Schachspieler*innen können maximal 15-20 Züge vorausdenken, allerdings bedeutet das nicht, dass sich das Spiel in der vorausgedachten Weise entwickeln wird. Die Variantenmöglichkeiten sind letztlich unvorhersehbar.
Unser Leben ist viel unvorhersehbarer als ein Schachtournier zwischen Großmeister*innen. Wenn wir uns darauf einlassen, dass wir uns ständig weiterentwickeln, und damit meine ich nicht, eine Karriereleiter zu erklimmen, da können wir ja ungefähr wissen, wie es ausgeht, wenn wir uns also auf unsere eigene innere Entwicklung einlassen: dann folgen wir den Möglichkeiten des Lebens, gerade auch denen, die wir noch nicht kennen.
Ich bin überzeugt, dass wir alle eine ganz spezifische Lernaufgabe im Leben haben. Dass wir uns innerlich entwickeln in die Möglichkeiten hinein, die in uns angelegt sind, getreu dem Satz des griechischen Dichters Pindar: Werde, die du bist.
Wenn ich mich darauf einlasse, begebe ich mich in unwegsames, mitunter extrem schwieriges Gelände. Der Weg, der meiner ist, wurde noch nie von einem anderen Menschen beschritten. Auf diesem Weg zu sein, mit allen seinen Hürden und Wirrnissen, ist mitunter eine Herausforderung, die nicht zu meistern scheint.
Auf diesem Weg ist es hilfreich, gut für sein autonomes Nervensystem zu sorgen und Vertrauen zu üben.
Wenn ich darauf vertraue, dass alles zu einem guten Ende kommen wird und ich deshalb keine Angst haben muss vor dem, was sich mir in den Weg stellt, dann ist das bereits ein guter Ausgang.
Wenn ich frei von Angst schwierige, unbekannte, herausfordernde, vielleicht auch aussichtslos scheinende Situationen navigieren kann, liegt auch darin ein guter Ausgang.
Wenn wir Angst empfinden, sind wir im Überlebensmodus. Unser Denken ist eingeschränkt, unsere Reaktionen sind automatisiert, das Großhirn wird praktisch umgangen. In diesem Zustand können wir nicht kreativ sein, keine neuen Lösungen finden, nicht den Strohhalm sehen, der uns eine Brücke baut.
Ja, Angst kann gut sein, weil sie uns vor Gefahren warnt, den Kampfgeist mobilisiert und dazu führt, dass die Muskeln ausreichend mit Sauerstoff und Blut versorgt werden, damit wir gegebenenfalls ganz schnell wegrennen können.
Aber die diffuse Angst vor der Zukunft unseres Planeten auf globaler und der Zukunft unserer Existenz auf persönlicher Ebene, ist für gar nichts gut. Diese diffuse Angst flutet zur Zeit in so vielen Bereichen unser Leben. Sie wird systematisch entfacht durch die Form, in der Nachrichten über den Zustand der Welt uns erreichen. Sie wird auch dadurch systematisch entfacht, dass Menschen keine besondere Rolle in unserem System spielen, sie sind lediglich Kapitalgenerierungs- oder Kapitalvernichtungs-Objekte. Im Zentrum stehen Wirtschaftswachstum und Reichtumsakkumulation und die Idee, dass es nicht reicht. Im täglichen Szenarium des Mangels wird uns weisgemacht, wir hätten nicht genug. Wir sind ewige Konkurrenten im Verteilungskampf. Auch das schürt die Angst.
Die Entwicklung von komplexen Systemen lässt sich nicht vorhersagen, doch spielt es für deren Entwicklung eine entscheidende Rolle, ob das System mit Angst geflutet oder mit Zuversicht gespeist wird.
Ein Satz, der mir hilft, inmitten der Unwägbarkeiten des heutigen Lebens stabil und angstfrei zu bleiben, hat keinen Wahrheitsgehalt. Allerdings hat er einen unglaublichen Wert, für mich persönlich und für das Kollektiv. Wenn wir Veränderungen in der Welt dauerhaft erreichen wollen, müssen wir gut für unsere autonomen Nervensystem sorgen, unser Vertrauen, unsere Zuversicht stärken. Deshalb ist ein Satz, der uns hilft, das zu erreichen, unbezahlbar.
Wie lautet deiner?
Ich bin Dr. Eva Scheller, Founder #InnerEducationAcademy, Traumatherapeutin, Mentorin in Lern- und Veränderungsprozess, Autorin, Juristin, Aktivistin.
Alten Kontext dekonstruieren.
Inneres Wissen fördern.
Veränderungen wagen.
Neues finden.
Dieser Essay erschien erstmals unter dem Titel „Alles geht immer gut aus für mich“ in den NeuraumpalastNews #7.2025. Die NeuraumpalastNews sind der monatliche Newsletter der Inner Education Academy.

